Die blaue Stunde
Natürlich, sagte sie, natürlich hast du Angst.
Die Sonne war gerade untergegangen, Tashi reichte mir einen Tonbecher mit starkem Tee, auf dem Augen zerlassener Yak-Butter schwammen. Tibet gehörte seit fünfzehn Jahren zu China, in den Städten sah man an Plätzen die Präsenz chinesischer Soldaten, ab und an wurde man an Strassensperren angehalten und kontrolliert. Jeder einzelne Tibeter schien ein unüberwindbares Bollwerk gegen die Besatzungsmacht zu sein.
Was würdest du geben, um deinen Weg zu finden?
Was müsste ich geben?
Schau, sagte Tashi, alles, was du hast, ist hier.
Noch war es nicht dunkel, ein unbekannter Mond stieg über den Yarlung Tsanpo.
Die blaue Stunde, sagte Tashi.
Wir schwiegen lange, die Farben dieser Welt schienen mit abnehmendem Licht intensiver zu werden, die niegesehenen Blüten der Blumen und der Bäume begannen zu leuchten.
Du dachtest, du wärest sicher aufgehoben in deiner Reisegruppe. Aber sie ist abgefahren, du bist geblieben.
Alles musst du geben, um dich zu finden. Alles. Und selbst das wird nicht reichen.
Bleib solange du willst.
Niemand hat je bekommen, ohne zu geben.
Niemand hat je gefunden, ohne zu verlieren.
Niemand hat je gelebt, ohne zu sterben.
Welch bezaubernde Schönheit, murmelte ich.
Du meinst, wenn du alles gäbest, wenn du alles zurückliessest, die Schönheit, die dein Auge aufzusaugen jetzt sich anstellt, wäre deine.
Doch auch sie gehört dir nicht.
Nicht der Mond, nicht die Unendlichkeit der Ebene, nicht die Grossartigkeit des Nanga Parbat dort am südöstlichen Horizont, nicht die reinigenden Wasser des Yarlung Tsanpo, der in Indien zum Brahmaputra werden wird, zum Sohn des Brahma.
Tashi stand auf. Ich mache Feuer und bereite das Abendessen. Komm ins Haus, wenn es bereit ist.
Ich nickte.
Wohl hatte sie meine Ratlosigkeit gesehen.
Schau nur, wie schön sie sind!
Nicht sie sind deine.
Du bist es, die diesen Blumen gehört!