Interview mit Markus zur Zusammenarbeit mit Rita Furger für das Theaterstück "Martha reist"
Markus, verstehst du MARTHA also rein sprachlich? Und wenn ja, woran erinnert dich der Urnerdialekt?
Der Versuch, das Bedürfnis, Worte zu finden für die Vorgänge in den inneren und den äusseren Welten, treibt mich seit jeher voran, im Schreiben, in Radioarbeit, im Theater.
Ich bin geboren und aufgewachsen in München, und nach Abitur und Zivildienst in die italienische Schweiz gekommen, meine Hauptsprachen sind also hochdeutsch, italienisch und englisch. Da ich südlich des Gotthard lebe, ist das Schweizerdeutsch zwar nah, aber keine Alltagssprache für mich – vielleicht hat es mich deshalb fasziniert, seit ich hier bin. Grammatikalische Formen, die es im Schriftdeutschen gar nicht (mehr) gibt, Ausdrücke, Redewendungen, die von Region zu Region sich ändern, der Klang, die Sprachmusik, die manchmal von Tal zu Tal schon andere Rhythmen, Kadenzen, Tonarten annimmt, erschliessen mir in jeder Begegnung mit Deutschschweizern neue Wortlandschaften.
Natürlich spreche ich selbst nicht Mundart, das wäre lächerlich, und seit ich in der Schweiz lebe beschwöre ich mein Gegenüber, bitte weiter in ihrem oder seinem Dialekt zu sprechen und nicht auf unsägliches Hochdeutsch zu schalten, nur weil ich schriftdeutsch zu sprechen scheine, und mich so teilhaben zu lassen an seiner oder ihrer Welt, mich die Geschichte der Worte erleben zu lassen, die Farben sehen zu lassen und die unter den Gedanken in Lauten, Ausdrücken und Satzformen liegenden Wirklichkeiten aus einer Welt, die mir unbekannt, und doch sehr vertraut sind.
Es ist schwer, Worte zu finden, diesen Urnerdialekt der Martha zu beschreiben, Worte, die nicht abgegriffen sind, Worte, die meine Bezauberung durch diese Sprach-Entdeckungsreise wiedergeben, die diese Zusammenarbeit mit Rita auch ist. Das Faszinierende an Sprachen ist für mich, dass sie aus grossen Bereichen bestehen, die nicht übertragbar sind in andere Idiome. Dass in ihren Worten, Ausdrücken und Sätzen Welten entstehen, die nur ihnen eigen sind, und daher unübersetzbar, wahrscheinlich gilt dies für so geschlossene Dialektformen noch sehr viel stärker als für grosse Sprachen. In ihrem Urnerdialekt erzählt mir Martha nicht nur von sich selbst oder von ihrer Welt, sondern sie nimmt mich mit in mir völlig neue und unbekannte Gebiete, die nur in dieser Sprache, in diesen Ausdrücken und Formulierungen existieren und sichtbar gemacht werden können, und die in jeder Übersetzung, sei es ins Schriftdeutsche, sei es in andere Sprachen, ins Nichtige, in Banalitäten, ins Versimpelte reduzieren würden.
Eine Art sprachlicher Wollust entsteht für mich im Zuhören, im Arbeiten mit dem Urnerdialekt, es entsteht ein Aufwühlen, im Sinne des Wortes, ein Aufrauhen von Bequemlichkeiten, ein Aufschürfen dieser Glätte der ständig befahrenen Strassen, die durch die eigene Muttersprache verlaufen. Dieses wunderbare Gebirgsidiom aus (wie es mir manchmal scheinen mag) längst vergangenen Zeiten nimmt mich an der Hand auf Entdeckungsreisen in Gefilde menschlichen Daseins, die so nirgendwo anders existieren.
Erst als ich Martha von ihrem Nachbüür Kobi sprechen habe hören, habe ich, nach über fünfzig Jahren Heimat in der deutschen Sprache, verstanden, dass das Wort Nachbar von der nahe Bauer kommt. 1)
Was bedeutet reisen für dein Leben?
Reisen ist für mich etwas Lebensentscheidendes, ja tatsächlich das Leben selber. Ich könnte mir mein Leben nicht vorstellen ohne das Reisen, ohne das Aufbrechen, das Unterwegssein.
Neben der Literatur und der Kunst ist das Reisen für mich die wesentliche Art, sich in der Welt zu orientieren, sich immer und immer wieder zu verlieren und immer und immer wiederzufinden, an neuen Orten, mit neuen Menschen, in neuen Gedanken und Sichtweisen, in neuen Zusammenhängen. Die Kraft haben, das Alte, das Gestrige loszulassen, heute wieder aufzubrechen und zu wissen, die Suche liegt nicht im Ziel, sondern im nächsten Schritt.
Was reizt dich, mit MARTHA unterwegs zu sein?
Unterwegs zu sein in der Phantasie, zu einer Reise aufbrechen, die sich aus dem Inneren gebiert und nicht Sachzwängen und Ereignissen von aussen unterliegt. Eine Reise, die sich entwickelt, im Sinn des Wortes, in und mit der Seele Marthas, in einer intensiven Suche nach Befreiung, nach Ehrlichkeit, nach tiefem Verstehen.
In Wirklichkeit geht es ja im Leben nicht darum, glaube ich, sich selbst zu finden, denn das schlösse Möglichkeiten von Passivität, von Ausprobieren und Warten und Zufall ein. Ich denke, unsere Aufgabe ist weniger das Sich-Finden, als das Sich-Kreieren, das Uns-Erschaffen, und das ist, was Martha beginnt in dem Moment, in dem sie aus dem beengenden Haus mit den winzigen Fenstern hinaustritt, den Garten voll’ giftiger und fremder Blumen verlässt und einfach die Strasse hinuntergeht, beim Bäcker sich zwei Weggli holt und weiterläuft in die grosse weite Welt hinein.
Was sind die Gemeinsamkeiten von Marthas Reise und deinen Reisen?
Das ist schwer zu beantworten, ich habe ja viele Reisen gemacht in alle Welt, häufig für und mit Theater, und diese Reisen bestanden dann zu grossen Teilen aus Theaterarbeit: Aufbau, Proben, Vorstellungen, Presse, Workshops, Gespräche, Packen, Aufbrechen zum nächsten Spielort, ins nächste Land.
Am meisten ähnelt Marthas Reise sicher meiner Wanderung von Venedig nach St. Petersburg vor zehn Jahren, einer Fussreise allein, über viele Monate, durch das ganze grosse Europa. Die Verletzlichkeit eines Menschen allein in der Welt, die Martha auch erfährt, aber auch die Vielzahl von sehr positiven, intensiven und freundschaftlichen Begegnungen haben mich tief beeindruckt, und ich denke, die Geschichte von Martha, auch wenn frei erfunden, ist sehr nah an einer solchen Wirklichkeit, wie ich sie auf meinem langen Spaziergang nach Russland erlebt habe.
Reisen Frauen anders als Männer?
Sicher, Frauen leben ja auch anders als Männer. Da sind andere Welten, andere Arten von Suche. Zum Glück leben wir, in unseren Breiten, in einer Welt, die auch für Frauen sehr viel sicherer ist als vor fünfzig oder hundert Jahren. Reisen hat ja mit Tourismus nichts zu tun, auch weil Reisen, im Gegensatz zu Tourismus, eigene Veränderung, Risiko und bis zu einem gewissen Punkt notwendigerweise Gefahr bedeutet. Reisen bedeutet auch, sich selbst zu verlieren, um sich woanders wiederzufinden, unerwartet, ungeplant, verändert, und hoffentlich unverletzt an Leib und Seele.
Auch diese Risiken sind für Frauen andere, deshalb werden sie anders herangehen an eine Reise, werden sie anders unterwegs sein.
Natürlich sind Wahrnehmung, Suche, Blick auf die Welt von Frauen anders, ihre Reisebeschreibungen, und nicht zuletzt auch Marthas Reise zeigen eine ganz andere Art von Reichtum, Tiefe und Reflexion als die von Männern.
Wahrscheinlich ist aber im Endeffekt diese Frage an den Falschen gestellt - müsste man nicht eine reisende Frau befragen? Martha…?
1) Nachbar m. ‘der Nächstwohnende, Nächstsitzende’, ahd. nāhgibūr, nāhgibūro (8. Jh.), mhd. nāch(ge)būre, nāch(ge)būr, asächs. nāhbūr, mnd. nābūr, nāber, mnl. nāghebuur, nābuur, nl. nabuur, aengl. nēahgebūr, nēahhebūr, engl. neighbour, anord. nābūi, schwed. nabo sind Zusammensetzungen aus den unter nahe und unter Bauer (ahd. gibūro) behandelten Wörtern mit einer Ausgangsbedeutung ‘Nahewohnender’. Das a der Tonsilbe wird vor -ch gekürzt, das zweite Kompositionselement im Übergang zum Nhd. zu -bar abgeschwächt. nachbarlich Adj. ‘benach-bart, der Nachbarschaft gemäß’, frühnhd. nachburlich, nachbaurlich (15. Jh.). Nachbarschaft f. ‘Gesamtheit der Nachbarn, Verhältnis der Nachbarn zueinander, benachbarte Gegend, Nähe’, mhd. nāchbūrschaft.